Die Love-Yourself-Qual

Es ist Sonntag. Der Blick in den Spiegel lässt Momente der vergangenen Nacht aufblitzen… und wir schämen uns. Warum haben wir das gemacht?

Samstag:
15 Uhr: Kann es kaum erwarten … Ich freue mich wie ein kleines Kind auf einen schönen Abend. Was ziehe ich an?
16 Uhr: Nur noch schnell den Einkauf machen und die Bude auf Vordermann bringen!
19 Uhr: Upps, vor lauter Samstag-Hektik mal wieder vergessen zu essen … naja … eine Brezel tut es auch.
21 Uhr: Santé! So jung kommen wir nicht mehr zusammen!
»Weisst du schon …?«
»Das ist ja unerhört!«
»Natürlich ist es eine gute Idee um zwei Uhr noch in einen Club zu gehen!«

Sonntag:
»Oh mein Gott, hab ich das gestern tatsächlich gemacht?«
»Bin ich dafür nicht zu alt?«
»Hab ich das wirklich gesagt?«

Wenn der Blick in den Spiegel gleichzeitig der Blick in die dunklen Ecken der eigenen Psyche wird, wird es schwer, sich selbst zu lieben. Nach einer viel zu langen Nacht schafft es nicht nur der Schlafmangel, dass man sich am liebsten heulend aufs Sofa legen möchte. Sonntags. Den ganzen Tag. Mit Tempos, Tränen und Törtchen. War es eine Zigarette zuviel? Die Hormone? Die Stimmung?

Manchmal schämen wir uns. Für Dinge, die wir gesagt haben. Oder getan. Oder gedacht.

Das Problem mit der Scham ist: Sie verschleiert einen wichtigen Prozess. Nämlich den der Selbstreflexion. Wenn man den Gedanken nicht mehr vor das innere Auge holen kann, ohne vor Scham zu zergehen, werden wir uns nie erklären können, warum wir manche Dinge sagten, taten oder dachten.

Scham überdeckt alles. An Tagen, an denen man sich nicht gegenübertreten mag, gefallen wir uns auch nicht. Alles ist schlecht an uns. Die Haut, die Hüfte, der Hintern. Es ist ein Teufelskreis. Dabei ist es doch alles, was wir in diesem Leben haben. Nämlich uns selbst. Wir haben diesen einen Körper, wir haben diese eine Nacht, wir haben dieses eine tolle Gespräch. Diesen Moment. Und in diesem Moment ist es anscheinend wichtig für uns, zu tun, was wir eben tun.

Wer aber möchte ein unkontrollierter Erwachsener sein, der ständig Dinge tut, die er nur in gewissen Momenten vertreten kann? Dafür haben wir zu wenig Zeit. Niemand möchte in seinem Leben etwas bereuen und sich schämen. Den Schlüssel hierfür haben wir selbst in der Hand. Warum macht man manchmal Sachen, von denen man weiß, dass sie nicht gerade clever sind? Um das herauszufinden, muss man sich besser kennenlernen.

Wenn man verliebt ist, schafft man es, dem Gegenüber alles zu vergeben. Jeder taktlose Spruch, jedes falsche Verhalten. Man schafft es diesen Menschen liebevoller zu betrachten als sich selbst.
»Das hat er nicht so gemeint …«
»So ist sie halt …«
»Morgen tut es ihm sicherlich leid.«
Warum kann man diese Denkweise nicht auf sich selbst übertragen?

Jeder Mensch hat mehrere Facetten. Gut und böse. Laut und leise. Hell und dunkel. Die Mischung macht uns aus. Nichts ist unglaubwürdiger, als ein Mensch, der angepasst durchs Leben schreitet. Denn in uns schlummert etwas, was von Anfang an da war. Eine Facette, die uns verleitet in verschiedenen Situationen so zu reagieren. Sie feuert uns an. Sie bremst uns. Sie lässt uns spielen. Lachen. Singen und Tanzen. Diese Facette ist die sehr junge Ausgabe von uns. Unser inneres Kind.

Wundervoll wild

Es kommt gerne zum Vorschein, wenn wir unser Lieblingslied hören. Wenn wir lauthals den Refrain mitsingen. Oder weinend unsere Freundschaften beschwören. Wenn wir schmusen möchten. Wenn wir am Strand kein Buch lesen, sondern eine Burg bauen wollen. Wenn wir Dinge nicht mit den Augen, sondern mit Händen anschauen. Wenn wir heimlich beim Nachbar auf dem Handy mitlesen. Oder Grimassen schneidend vor dem Spiegel stehen.

Die meisten von uns haben viel Verständnis für Kinder. Der Rest sollte es sich aneignen. Diese kleinen Menschen, die noch so viel Wunderbares kennenlernen dürfen. Die den Moment leben. Deren Spieltrieb sie durch die Jahre leitet. Die tun, nach was es ihnen gerade ist. Nicht angepasst sind.

So ein wundervolles kleines Wesen trägt jeder in uns.

Spielerisch sorgenfrei

Diese Wesen lassen uns mit kindlicher Neugier ein Museum erforschen. Es lässt dich Gegenstände berühren, an denen extra ein Nicht-anfassen-Schild steht. Es lässt dich Kastanien sammeln, Marienkäfer von der Hand aus starten, in Pfützen springen, durch den Sommerregen ohne Regenjacke fahren.

Und manchmal bringt es dich dazu, mit 35 Jahren Trinkspiele zu spielen. Nach zwei Uhr nachts noch den Club wechseln, weil dir die Musik nicht mehr gefällt. Oder einfach die Zeit vergessen.

Herrlich ehrlich

»Schau mal, eine ganz dicke Frau!«
»Mama, warum hat der Mann so komische Zähne?«
Kinder drücken sich klar und direkt aus. Eine alte Weisheit sagt, Kindermund tut Wahrheit kund. Ein Kind bewertet eine Situation anders als ein Erwachsener. Es sagt Sätze, die in seinen Augen nicht verletzend sind – weil sie einfach eine Tatsache ausdrücken. Ohne Wertung.

Vielleicht sind es die Sätze, die uns rausrutschen, wenn wir nicht nachdenken. Die wir am liebsten sofort zurücknehmen möchten. Spätestens am Sonntagmorgen. Dabei waren sie in dem Moment genauso gedacht.

Unaufgeregt unangepasst

Die schönste Eigenschaft ist das unkonventionelle Handeln. Kinder tun Dinge nicht, weil es sich so gehört. Sie tun Dinge dann, wenn es einen Sinn für sie ergibt.

Wenn man sich also wieder einmal fragt:
»Hab ich das gestern tatsächlich gemacht?«
»Hab ich das wirklich gesagt?«
Dann kann man sich selbst doch auch Folgendes antworten:
»Ja, habe ich. Weil ich es in diesem Moment genauso empfunden habe.«

Weil wir so sind. Unser inneres Kind ist nicht immer angepasst – deswegen sind wir es auch nicht. So einfach ist das. Unser inneres Kind will manchmal wild und ungezähmt sein und genau das macht uns aus. Mit allen Facetten.

Charmantes Chaos Team

Stellt euch vor, ihr könnt euer inneres Kind sehen. An jenem Sonntagmorgen, wenn ihr euch wütend im Spiegel anschaut, seht ihr eigentlich das kleine Kind in euch, wie es beschämt zu Boden schaut. Eine Träne verliert. Es hatte es doch nicht so gemeint. Es wollte nur spielen. Lustig sein. Hatte die Konsequenz falsch eingeschätzt. Und jetzt wird es angeschrien. Mit Nichtachtung gestraft. Vielleicht sogar gehasst.

Es ist so wichtig, das innere Kind nicht verstummen zu lassen. Nicht angepasst zu sein. Nicht in der Masse unterzugehen. Sondern Hand in Hand mit dem inneren Kind das Leben zu meistern. Was für eine Verantwortung damit einhergeht, was für eine liebevolle Beziehung. Als Chaos Team mit einem Augenzwinkern.

Wenn du dich selbst liebst, wirst du auch deine Mitmenschen mit anderen Augen sehen können. Denn auch sie haben Kinder in sich. Und auch die dürfen mal raus.

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