Wir begegnen in unserem Leben vielen Menschen. Manche schließen wir schneller in unser Herz als andere. Manche berühren uns nie. Die Menschen in unserem Herz können uns am meisten verletzen. Wir lassen sie rein und sie wildern, wie es ihnen gefällt. Aber sie erfüllen auch unser Herz. Wie groß ein Herz ist, wie viele Plätze es darin gibt und warum eine ausverkaufte Vorstellung schöner ist als freie Sitzreihen, möchte ich gerne erzählen.
»Bonjour Mesdames et Messieurs, treten sie ein und erleben sie die unglaublische, zauberafte und unteraltsame Tine Turbine!«
Bienvenue
Lust auf ein paar Stunden in einer anderen Welt? In einer Welt voll Zauber, Tränen und Lachen? Dann kommen Sie herein! Es sind noch Plätze frei – gleich geht es los! Der Preis ist für jeden zu bezahlen, wir haben verschiedene Kategorien, jeder soll sich wohlfühlen, jeder soll es sich leisten können.
Der innere Zirkusdirektor mit dem dicken Bauch und dem großen Schnurrbart bittet die Besucher herein und weist sie ihren Plätzen zu. Und manchmal, ist da ein Zuschauer mit goldenem Ticket. Wir haben es ihm höchstpersönlich gegeben. Mehr oder weniger zögerlich. In einer Bar, beim Wandern oder er hat es zufällig bei Tinder ergattert. Und jetzt sitzt er da. Du siehst ihn, als du durch den Vorhang spickst. Du siehst aber noch viel mehr. Du siehst deine Familie auf den vorderen Rängen. Deine beste Freundin in der ersten Reihe. Hinten links siehst du aber auch alte Bekannte. Vielleicht siehst du auch Menschen, die dir einmal begegnet sind und an die du gar nicht mehr gedacht hast.
Au cirque
Alle sitzen, alle haben Popcorn. Der Zirkusdirektor lässt den Schnurrbart wackeln und kündigt den ersten Artisten an.
Es werden Gitter aufgebaut. Die Zuschauer sind gespannt. Todesmutig begrüßt der Dompteur die Zuschauer und begibt sich in den Käfig. Anmutig schleichen die großen Raubkatzen um ihn herum. Respektvoll. Vorsichtig. Ebenso aufgeregt. Raubkatzen können kratzen. Ein Biss in die Kehle und jeder ist passé. Der Tanz mit den wilden Tieren – ist ein Tanz mir uns selbst. Jeder hat ihn in sich. Diesen Tiger. Dieses wilde Geschöpf. Oft zeigt er sich, wenn man hungrig im Stau steht. Aber vielleicht auch in einer hitzigen Diskussion. Der Dompteur hat die Katzen im Griff. Selbst beim großen Finale, als er den Kopf zwischen die großen Kiefer schiebt und wieder zurück. Ein Raunen geht durch die Menge, er hat seine Katzen im Griff!
Die Gitter werden abgebaut und die Manege wird gestürmt. Von Clowns. Manche sind frech, andere etwas schüchtern. Aber alle sind lustig. Und vor allem bunt. Die Zuschauer können sich gar nicht sattsehen an dem verrückten Treiben. Wer über sich selbst lachen kann, gewinnt die Herzen der Zuschauer. Nimmt sie mit in eine Welt ohne Sorgen. Zeigt ihnen, wie auch große Herausforderungen mit einem Augenzwinkern zu sehen sind. Macht ihnen Mut! Zeigt ihnen, dass man stolpern kann.
Kaum sind die Clowns weg, wird es still. Der Zirkusdirektor kündigt den neuesten Zugang an: einen Jongleur, der seinesgleichen sucht. Dieser Jongleur schafft es nicht mit drei, nicht mit vier, nicht mit fünf, sondern mit verrückten acht brennenden Keulen zu jonglieren. So wie man die Fackeln des Alltages immer in der Luft behält. Meistens ohne sich zu verbrennen. Vielleicht ist es ein fordernder Job. Vielleicht sind es die Kinder. Vielleicht ist man die Konstante für Freunde in Not. Jeder hat seine Keulen, Fackeln oder Bälle, die er hochhalten muss. Jeden Tag.
Die Zuschauer sind gebannt. Jetzt die Stimmung nicht abkippen lassen. Der Zirkusdirektor macht noch einen lustigen Spruch und spricht mit den Kindern in der ersten Reihe, während die Manege mit Seilen neu drapiert wird. Das Licht geht aus. Der Spot geht an und richtet sich auf eine schmale Gestalt. Ganz oben unter dem Zeltdach. Sie balanciert. Als hätte sie noch nie etwas anderes gemacht. Sie überwindet die eigene Angst. Sie zeigt den Zuschauern, was sie kann. Es gibt im Leben immer Situationen, in denen ein Vorbild anderen Menschen wichtige Impulse geben kann. Sie bestärken. Ihnen den Schwindel nehmen kann. Wenn man bei sich ist und sich konzentriert. Und so kommt sie ganz leichtfüßig auf der anderen Seite des Seiles an.
Und während der Applaus nicht enden will, gibt es einen Puff in der Manege und da steht er. Umhüllt von Rauch. Mit einem Umhang. Langsam hebt er den Kopf. Ein geheimnisvolles Gesicht ist zu sehen. Das ist er! Das ist der Zauberer! Er zeigt seinen besten Trick. Er kann mit seinem Blick Menschen verzaubern. Zwei Freiwillige bitte! Er schafft es, aus Fremden Freunde zu machen. Die sich in der Manege Kennenlernen. Und die bei jeder zukünftigen Vorstellung nebeneinandersitzen werden. Ein Leben lang. In jedem Menschen steckt ein Zauberer, der Dinge verändern kann. Der positiven Einfluss auf das Leben andere hat.
Die Vorstellung neigt sich dem Ende zu. Der Zirkusdirektor kündigt die letzte Show an. Mit tosendem Lärm stürmen drei wunderschöne Pferde die Manege. Der Sand staubt, die Luft verändert sich, Musik ertönt. Die Pferde sind geschmückt und zeigen sich stolz. Und da, auf dem mittleren, da sitzt sie. Und winkt. Die Zirkusprinzessin. Bezaubernd sieht sie aus! Prächtig in ihrem Kleid aus Seide und Bändern, passend zu den Pferden. Sie steigt ab, die Pferde verschwinden so schnell, wie sie kamen. Das Licht richtet sich auf sie. Und sie singt. Sie singt in allen Farben. Sie schafft es, den Zuschauern direkt ins Herz zu singen. Die Melodie, die Stimme, das Gefühl – es umhüllt die Menschen im Zelt. Und erreicht jeden. Auch die letzte Reihe. Die Stimme macht Freude und wärmt. So wie die eigene Stimme wärmen kann. In dunklen, kalten Momenten. Wenn kein Licht am Himmel ist. Und kein Funke da, wo etwas zu entzünden wäre. Sie endet. Bedankt sich und verschwindet.
Le grand coeur
Das Zelt jubelt. Manche weinen, immer noch berührt. Was alle verbindet? Sie sitzen zusammen im Zirkuszelt. Im Herzen. Sie klatschen immer noch. Viele stehen auf. Standing Ovations im Herzen.
In unserem Herz ist immer Platz für neue Zuschauer. Die Plätze sind nicht begrenzt. Wir sollten versuchen, möglichst viele davon zu besetzen. Denn selbst, wenn ein Zuschauer die Vorstellung früher verlässt – es gibt so viele wertvolle Menschen, für die sich unsere Vorstellung lohnt. Es ist wie mit der einen großen Liebe. Von der wir am liebsten alles abhängig machen möchten. Ich glaube an viele großen Lieben. Denn ich möchte nicht abwägen, ob ich meine Freunde oder Familie oder Partner mehr liebe. Ich liebe alle anders. Und das ist das Schöne.